Wir Menschen besitzen eine Vielzahl von inneren Persönlichkeitsanteilen. Da gibt es einen Anteil, der besonders viel Anerkennung und Bestätigung von außen benötigt, um den Selbstwert der jeweiligen Person zu stabilisieren respektive aufrechtzuerhalten. Zu den Quellen der Aufwertung zählen die Aufmerksamkeit und das Lob der Partnerin oder des beruflichen Umfeldes, die Bewunderung im Fitnessstudio oder im Rahmen eines heimlichen Flirts sowie gelegentliche Machtspiele.
Der narzisstische Persönlichkeitsanteil in uns stellt an sich kein Problem dar. Jeder von uns hat vermutlich bereits eine Erfahrung mit einer narzisstischen Kränkung erlebt, etwa im Kontext destruktiver Kritik. Problematisch wird es erst, wenn dysfunktionale Copingstrategien greifen, die dieser Anteil in uns entwickelt hat. Dadurch kann dieser Persönlichkeitsanteil zum Hauptdarsteller werden, wodurch es zu dauerhaften schädigenden Verhaltensweisen kommen kann, denn der narzisstische Persönlichkeitsanteil geht oftmals mit oberflächlichem Charm, aufgeblähter Egozentrik und/oder emotionalem Missbrauch Hand-in-Hand. Dieser Anteil, der sich durchaus schillernd und faszinierend präsentieren kann, sendet gerne widersprüchliche Signale (Idealisierung vs. Entwertung) und verlangt nach herabsetzenden und manipulierenden Verhaltensweisen, wie etwa zwanghafter Kontrolle, Realitätsverzerrungen oder Überlegenheitsphantasien, um das eigene Selbst zu erhöhen.
Aus hypnosystemischer Sicht gehen wir davon aus, dass hinter diesem Anteil berechtigte Bedürfnisse und Anliegen stehen, die nicht ausreichend befriedigt erscheinen und mit einem Mangel an Selbstwahrnehmung einhergehen können. Eidenschink spricht in diesem Zusammenhang von Menschen in narzisstischen Nöten. Das heißt, es könnte sein, dass Menschen mit narzisstischen Verhaltensweisen Erfahrungen gemacht haben, in denen auch sie sich in die Defensive gedrängt gefühlt haben, wodurch sie narzisstische Kränkungen erlebt haben. Diese könnten beispielsweise mit Gefühlen von Scham, Einsamkeit und tiefem Leid einhergehen, weshalb sie infolge in zwischenmenschlichen Beziehungen zu dysfunktionalen Copingstrategien greifen, verbunden mit der Idee, die verletzte Seite in sich mit diesem Verhalten schützen zu können und weitere existentielle Kränkungen zu vermeiden.
Im Partnerschaftsalltag können diese Überkompensationsstrategien sichtbar werden, in dem die Bedürfnisse dieser Männer dominant im Vordergrund stehen, während die Partnerin versucht, eigene Bedürfnisse und Wünschen hintenanzustellen, um den Partner bei Laune zu halten und mögliche Wut und Abwertungen seinerseits zu vermeiden. Unter dem manipulierenden Liebes-Vorwand: „Ich brauche dich, damit es mir gut geht“, agieren Männer mit einem starken narzisstischen Persönlichkeitsanteil, um das Objekt der Begierde an sich zu binden. Zu Beginn mag diese Art des Liebesschwurs das Gefühl vermitteln, dass es sich um ein „richtiges Begehren" oder gar "die wahre Liebe“ handelt. Doch hat sich das Blatt der Bewunderung und Euphorie erstmals gewendet, kann es zur Folge haben, dass so manche Frau zu Hause förmlich in Abgründe blickt, denn von verbaler zu körperlicher Gewalt ist es oft nur ein kleiner Schritt. Demütigungen, Belästigungen und Gewalt finden meist im Verborgenen statt, und zwar gerne im Kontext von häuslicher Gewalt.
Laut einer Prävalenzstudie der Statistik Austria zu geschlechterspezifischer Gewalt gegen Frauen ist jede 3. Frau im Laufe ihres Lebens von körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen. 16 Prozent der Frauen waren oder sind von intimer Partnergewalt betroffen. Im Übrigen zählt Gewalt an Frauen und Mädchen zu den häufigsten Menschenrechtsverletzungen. Nun stellt sich die Frage, wo denn Gewalt gegen Frauen beginnt? Etwa bei abwertenden Kommentaren, die eine Frau bloßstellen oder ihr nachhaltig suggerieren, dass sie nichts wert sei und ohne ihren Partner nicht überlebensfähig wäre. Bei Bedrohung, Beschimpfung und Kontrolle. Sowie bei aufdringlichem Verhalten, wie etwa einer unerwünschten Berührung.
Befinden sich in einer dysfunktionalen Beziehungskonstellation auch noch minderjährige Kinder, fühlen sich Frauen oftmals jahrelang verpflichtet, den Partner - trotz zum Teil lebensgefährlicher Momente - nicht verlassen zu können. Zu groß erscheint die Angst, dass sie dadurch ihre Kinder verlieren könnten, etwa durch die Trennung an den Partner oder durch Einschreiten der Kinder- und Jugendhilfe. Denn nicht selten präsentieren sich diese Partner als sehr souverän in der Manipulation der Außenwelt, während sich die Mütter in permanenten Angst- und Stresszuständen befinden, und sie durch ihr Verhalten psychisch schwach und deren Selbst instabil erscheinen. Diese Zustände werden durch den fürsorglich-manipulierenden Partner gepflegt und genährt, etwa durch weitere demütigende Aussagen wie: „Deine Freunde machen sich auch schon Sorgen, dass du nicht mehr normal tickst, fällt dir nicht auf, wie sie dich in letzter Zeit ansehen?“ Oder „Du weißt, dass ich sehr erfolgreich und angesehen bin und es wird sich nicht die Frage stellen, wem man Glauben schenken wird – dir, der psychisch Instabilen oder mir!?“ Verstärkt wird das demütigende Erleben durch einen gelegentlichen körperlichen Übergriff, als „Tüpfchen auf dem I“ sozusagen.
Betroffene Frauen verlieren Stück für Stück das Vertrauen in das eigene Bauchgefühl, in die eigene Urteilskraft und ziehen sich zurück, in die häusliche Isolation, wodurch die Bindung zum Partner noch enger wird. Ausgeliefert, entmachtet, voller Scham und Selbstzweifel geben manche Mütter klein bei – manchmal verbunden mit der Idee, es gar nicht besser verdient zu haben oder mit der Hoffnung, der Gewalt könnte auch bald ein Ende innewohnen. Depressive und sozial phobische Anteile dieser Frauen können dadurch gestärkt werden. Der Umgang mit psychischem Missbrauch, verbunden mit körperlichen Übergriffen, kann die eigenen Grenzen des Aushaltens im Laufe der Zeit derart übersteigen, sodass ein Aufenthalt in einer Psychiatrie als einzige Lösung hilfreich erscheinen kann.
Mütter sind in diesen Situationen primär nicht mit der Begleitung ihrer Kinder überfordert, sondern mit dem Verhalten ihres Partners und der Angst, dass sie aufgrund sozioökonomischer Faktoren nicht alleine für die Kinder sorgen und/oder ihnen die Kinder genommen werden könnten. Sie stellen sich die Frage, wie sie einerseits ihre Kinder vor dem Erleben im eigenen zu Hause bestmöglich schützen und andererseits diese nicht verlieren können. Das ist ein herzzerreißendes Dilemma im Erleben einer Frau und Mutter! Die bewusste Entscheidung zu Schweigen und keine Anzeige bzw. kein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen den Partner zu erwirken, zum Schutze der minderjährigen Kinder, bietet dem Partner die Möglichkeit respektive die Bühne, weiterhin seinen narzisstischen Anteil hochleben zu lassen. Distanzierungs- sowie Ablenkungsstrategien seitens der Mütter bestimmen den Alltag, um die Illusion einer funktionierenden Familie zum „Wohle der Kinder“ aufrechtzuerhalten. Auch wenn Kinder die Gewalt nicht direkt zu sehen bekommen, nehmen sie Stimmungen sehr feinfühlig war. Dieses "Familiengeheimnis" kann Gefühle der Angst, Schuld oder Unsicherheit bei ihnen auslösen und zu Schlaf-, Konzentrations- oder Schulproblemen sowie unerklärlichen Kopf- und Bauchschmerzen führen.
Oftmals fragen sich Mütter im Nachhinein, welche ihrer Persönlichkeitsanteile dazu beigetragen haben, um diese Beziehungsdynamik aufrechterhalten zu haben. Dysfunktionale Beziehungen und schädliche Interaktionsmuster auf der Paarebene sind immer ein Zusammenspiel, welches etwa Bindung und Beziehung anbelangt. Beispielsweise haben die US-amerikanischen Psychologen Lee Kirkpatrick und Keith Davis bereits 1994 beobachtet, dass Menschen mit einem vermeidenden Bindungsstil und Menschen mit einem ängstlichen Bindungsstill gerne zusammenfinden. Der eine hat ein Problem mit Nähe und stößt den anderen weg, sobald es eng wird, während der andere viel Nähe braucht, um sich sicher und geborgen zu fühlen. Bindungs- und Verlassensängste ziehen sich demnach magisch an und stoßen sich ab, weshalb auf euphorische Phasen meist Verletzungen und Verzweiflung folgen. Unabhängig der Bindungsstile und ihrer ungleichen Bindungsaktivierung und Vermeidungstaktiken muss jedoch betont werden, dass es keine Argumente für die Akzeptanz von Gewalt gibt und Gewalt niemals eine Lösung darstellt!
Unabhängig dessen ist schädliches Verhalten auch eine Frage der psychosozialen Gesundheitskompetenz, d. h. ob Menschen selbst erkennen, dass sie ein problematisches Verhalten an den Tag legen, mit welchem sie die Gesundheit anderer schädigen und sich deshalb fachliche Hilfe suchen, um die psychische Gesundheit zu fördern. Oder, ob diese Personen seitens ihres Umfeldes die Rückmeldung erhalten, dass ihr Verhalten gesundheitsschädigende Auswirkungen für andere, in diesem Fall die Familie, haben könnte.
Hinzusehen und problematisches oder übergriffiges Verhalten im Freundes- oder Arbeitskreis anzusprechen, ist für Menschen oftmals herausfordernd, da es viele Fragen aufwerfen kann. Etwa: „Trete ich meinen Freunden mit meiner Wahrnehmung zu nahe? Wann gibt es einen Moment des Vertrauens, um es zu thematisieren? Welche Worte wähle ich? Was tue ich, wenn ich eine weitere Eskalation befürchte?“
Jede Veränderung beginnt mit einer Entscheidung und einem ersten Schritt ...
An alle Beobachtenden: Es darf angemerkt werden, dass viele betroffene Frauen einfache Fragen wie: „Kann es sein, dass du Gewalt erlebst?“ oder „Gibt es jemanden, der dir Unbehagen bereitet oder Angst macht?“ als sehr entlastend wahrnehmen, da der Anstoß zu einem offenen Gespräch von außen kommt und sie sich selbst nicht als „die Verräterinnen“ ihres Familiensystems enttarnen müssen.
An alle Betroffenen: Du bist so viel mehr, als du jetzt gerade über dich denkst! Erlaube dir, fachliche Begleitung in Anspruch zu nehmen.
Abschließende Anmerkung: Psychische Gewalt in Beziehungen trifft sowohl Frauen als auch Männer. Welches Geschlecht häufiger emotionalen Missbrauch und Manipulation erlebt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Wenn Männer Opfer von körperlicher und psychischer Gewalt werden, gilt im Prinzip das gleiche wie für Frauen: Nicht bagatellisieren, mit Vertrauenspersonen darüber sprechen, Informations- und Hilfsangebote in der nächstgelegenen Männerberatungsstelle holen.
Ein erster Schritt ... Regionale Anlaufstellen in Tirol
Notfallnummern (24/7 erreichbar):
o Polizei: 133
o Rettung: 144
o Euro-Notruf: 112
o Frauenhelpline: 0800 222 555 (fallbezogene Rücksprachen möglich)
o Männerinfo: 0800 400 777
o Opfer-Notruf (Weißer Ring): 0800 112 112 (Mo - Fr, 8 - 20 Uhr; v. a. bei Gewalt durch fremde Person)
Gewaltschutzzentrum: https://www.gewaltschutzzentrum.at/tirol/
Kinder- und Jugendhilfe: https://www.tirol.gv.at/gesellschaft-soziales/inklusion-und-kinder-und-jugendhilfe/kinder-und-jugendhilfe/kinder-und-jugendhilfe-der-bezirksverwaltungsbehoerden/
Weitere Opferschutzeinrichtungen und Beratungsmöglichkeiten in Tirol unter
Quelle Anlaufstellen: https://toolbox-opferschutz.at/sites/toolbox-opferschutz.at/files/Leitfaden/Leitfaden_Gewaltschutz_T.pdf (Stand 14.12.2023)
Weiterführende Literatur:
Gesundheit Österreich GmbH: Toolbox Opferschutzgruppen. Verfügbar unter: https://toolbox-opferschutz.at (Stand 14.12.2023).
Beck, Thomas/Berger, Alexander/Stix, Lydia/Riedl, David (2022): Evaluationsergebnisse der Screening-Befragung zu häuslicher Gewalt an der Universitätsklinik Innsbruck. Verfügbar unter: https://toolbox-opferschutz.at/Evaluation_Screening (Stand 14.12.2023).
BMSGPK (2023): Gewaltprävention: Mann spricht’s an! Verfügbar unter: https://www.sozialministerium.at/Themen/Soziales/Soziale-Themen/Geschlechtergleichstellung/Gewaltpraevention/mannsprichtsan.html (Stand 02.12.2023)
Eidenschink, Klaus (2023): Es gibt keine Narzissten! Nur Menschen in narzisstischen Nöten. Eine Handreichung für alle und jede(n). Heidelberg: Carl Auer Verlag.
Levine, Amir/Heller, Rachel (2015): Warum wir uns immer in den Falschen verlieben. München: Goldmann Verlag.
Siegert, Almut (2020): Toxische Beziehung. So erkennst du Warnsignale und löst dich rechtzeitig. Verfügbar unter:
https://baerbel-wardetzki.de/wp-content/uploads/2020/06/Toxische-Beziehung-So-erkennst-du-Warnsignale-und-löst-dich-rechtzeitig-www.emotion.de_.html (Stand 02.12.2023)
Hartmann, Corinna (2022): Toxische Beziehungen: Gift für die Seele. Verfügbar unter: https://www.spektrum.de/news/toxische-beziehungen-gift-fuer-die-seele/2007208 (Stand 02.12.2023)
Österreichs digitales Amt - Gewalt an Männern (2023): Allgemeine Hinweise zur Gewalt an Männern und Handlungsmöglichkeiten für Männer. Verfügbar unter:
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